Zur Seite bitte!– Von Männlichkeit und festgefahrenen Rollenbildern

Veröffentlicht

11. November 2022

Text 

Marie-Louise Schlutius

foto | Karsten Bahnsen

In einem interaktiven Workshop hinterfrage ich mit einer Gruppe anhand von Experimenten Männlichkeit. Dabei kommt heraus: Diese nimmt unterbewusst oft viel Raum ein. Doch was steckt dahinter und wie können wir die bestehenden Rollenbilder überwinden?

Selbstverständnisse, nicht-getane Reflexionen, Vorurteile und festgefahren Rollenbilder spielen immer noch einen großen Stellenwert in der Gesellschaft. Und sie werden durch unser Handeln auch stets multipliziert. Auch ich ertappe mich immer wieder dabei, dass Geschlechterstereotype meine Gedanken durchkreuzen. Ich mich diesen manchmal sogar beuge oder gar an ihnen orientiere.

¹Hegemonie stammt von dem griechischen Wort „Führung“.

Teile der Gesellschaft arbeiten bereits mit Hochdruck daran, sich von den festgefahrenen Geschlechterstereotypen zu lösen. Allen voran Adam, der den interaktiven Workshop leitet, in dem wir anhand von Raumexperimenten Männlichkeit hinterfragen. Adam setzt sich bereits seit einer Weile mit seinen Privilegien auseinander und reflektiert sein eigenes Handeln. Und ihm wird klar: Eine dominante Männlichkeit wird auch heute noch idealisiert und ist allgegenwärtig: im Job, in der Restaurantschlange, auf dem Dancefloor, im Straßenverkehr. In Alltagssituationen nehmen männlich gelesene Personen oft viel Raum ein, ihr Umfeld scheint teilweise unsichtbar für sie zu sein. Adam erwischt sich in manchen Momenten selbst dabei. Und dabei stellt er sich die Frage, wieso die besagten Muster auch in vermeintlich progressiven und aufgeschlossenen Gesellschaftsgruppen schlummern. Wieso die besagten Muster auch in ihm arbeiten. 

Das besagte Dominanzverhalten liegt dem Konzept der hegemonialen¹ Männlichkeit zugrunde. Die hegemoniale Männlichkeit bedeutet, dass Männer Überlegenheit und Dominanzverhalten gegenüber Frauen und gegenüber Männern ausspielen. Dies passiert oft auch unterbewusst.

Wir wagen in dem Workshop den Versuch, das besagte Verhalten zu messen und zu hinterfragen: In dem Experiment wird jeder teilnehmenden Person jeweils eine Rolle zugeordnet, die sie von nun an einnimmt. Die Beteiligten sollen in konstanter Bewegung entweder ausweichend auf ihr Umfeld reagieren oder konstant ihren eigenen Weg gehen – komme, was wolle. In einer zweiten Runde werden die zugeschriebenen Rollen getauscht. Die anschließende Reflexionsrunde verdeutlicht, dass sich weniger Männer in ihrem Alltag ausweichend verhalten als Frauen dies tun.

In der letzten Runde agieren alle Teilnehmenden ausweichend. Fast alle kommen danach auf das gleiche Fazit: Es ist das angenehmste Modell, welches die Gruppendynamik im Vergleich zu den vorausgegangenen Runden positiv verändert. Das dritte Raumexperiment hat den Vorteil, dass alle Beteiligten auf ihr Umfeld achten, es aktiv wahrnehmen und so deutlich zuvorkommender miteinander umgehen. Die Teilnehmenden kommen sich näher, das Teamgefühl steigt und die Verantwortung und Achtung für das Gegenüber potenziert sich.

foto | @geschriebenegefuehle

„Liebe dominante Männlichkeit, einmal zur Seite bitte, denn ich habe einen großen Blumenstrauß für Dich!“ – Marie-Louise Schlutius

Viele männlich gelesene Personen spüren im Laufe des Workshops eine Art Befreiung. Sie fühlen sich in ihrem Alltag oft einem enormen Druck ausgesetzt und das nicht ohne Grund: Männliche Machtgruppen werden auch von ihnen häufig gewollt oder ungewollt unterstützt. Auch sie wollen deshalb oft ihre eigene hegemoniale Funktion unter Beweis stellen, was wiederum dazu führt, dass männliche Dominanz in modernen Gesellschaften gehalten und multipliziert wird. Der Grund ist ein kulturell wie tiefenpsychisch wirksames Bindungsverhältnis unter Männern. Rückwirkend für dieses Verhalten ist unter anderem die patriarchale Dividende. Diese beschreibt eine unter Männern kulturgenetisch eingeschriebene Haltung, die besagt, dass sie Frauen überlegen sind. Was die Vormachtstellung des Patriarchats rechtfertigt. 

Doch in dieser Rolle fühlen sich die meisten Teilnehmer nicht wohl. Sie wollen sich von ihr befreien. Und der Workshop bietet einen ersten neutralen Raum, in dem wir über genau diese Problematiken sprechen können. Alle merken, dass wir Rollenbilder täglich selbst reproduzieren. Wer von uns Frauen hat das letzte Mal einem Freund Blumen zum Geburtstag geschenkt? Wer hält wem die Tür auf? Wie häufig lasse ich Emotionen zu und wem öffne ich mich? Der Raum, in dem zu Beginn Fremde aufeinandertrafen, ist zu einer Begegnungsstätte der Offenheit und Ehrlichkeit geworden. Und durch den ungefilterten Austausch wird auch mir bewusst: Nicht nur ich leide manchmal unter aufgezwängten Rollenbildern. Es ergeht dem Großteil meiner Generation, meines aktuellen Umfeldes so. Und die meisten sind bereit, aktiv etwas dagegen zu machen, genauso wie Adam. 

Und auch ich nehme mir an ihm ein Beispiel. Ab nun heißt es bei mir jedenfalls: „Liebe dominante Männlichkeit, einmal zur Seite bitte, denn ich habe einen großen Blumenstrauß für Dich!

Eure Malo

Credits

Foto – Karsten Bahnsen

Text – Marie-Louise Schlutius

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